Übers Ziel geschossen?
Am 1. Jänner 2013 trat eine Änderung der Wiener Bautechnikverordnung in Kraft, die barrierefreies Bauen vorantreibt. Einigen Experten gehen die neuen Regelungen jedoch zu weit.
Legen wir eine alte, aber gesellschaftspolitisch höchst brisante Schallplatte auf! Eine ihrer bekanntesten Songs lautet: „Die Österreicherinnen und Österreicher werden immer älter.“ Da kann jeder mitsummen. Konkret betrug laut der Statistik Austria die Lebenserwartung von Buben bei der Geburt hierzulande im Vorjahr 78,3 Jahre, jene von Mädchen sogar 83,3 Jahre. 1990 lag der Wert noch bei 72,2 beziehungsweise 78,9 Jahren. Tendenz weiter steigend.
Alternde Gesellschaft
Allein angesichts dieser demografischen Entwicklung rückt barrierefreies Planen und Bauen immer mehr in den Fokus. Denn mit dem Alter geht häufig eine Einschränkung der Mobilität einher. „Wer jetzt nicht umdenkt, wird in wenigen Jahren mit wirklich teuren Umbau- und Adaptionsarbeiten konfrontiert sein“, erklärt dazu Klaus Voget, Präsident des Österreichischen Zivil-Invalidenverbands (ÖZIV). Die Wiener Bauordnung erachtet er diesbezüglich im Vergleich zu jener anderer Bundesländer als „schon fortschrittlich“.
Kleinwohnungen um bis zu 30 Prozent größer und teurer
Das ist naheliegend, kommt doch in der Bundeshauptstadt seit Jahresbeginn eine Änderung der Wiener Bautechnikverordnung (WBTV) zum Tragen. Auf Amtsdeutsch heißt das: „Mit der 73. Verordnung der Wiener Landesregierung vom 21. 12. 2012, die am 1. Jänner 2013 in Kraft getreten ist, wurde die WBTV geändert. Damit ist für die ab 1. Jänner 2013 eingereichten Bauansuchen die OIB-RL 4, Ausgabe 2011 anzuwenden. Die OIB-RL 4, Ausgabe 2011 verweist in Punkt 8 auf taxativ aufgezählte Punkte der ÖNORM B 1600, Ausgabedatum 15. 2. 2012. Diese Punkte der Norm sind somit für barrierefrei zu gestaltende Bauwerke einzuhalten. Für alle zum Zeitpunkt des In-Kraft-Tretens anhängigen Verfahren gilt die bisherige Rechtslage.“
Hans Jörg Ulreich, Berufsgruppensprecher der Österreichischen Bauträger, „übersetzt“ wesentliche Punkte: „Seit Jänner muss in Wien jedes Badezimmer, jedes WC, jeder Vorraum und jede Küche so geplant werden, dass sie binnen 24 Stunden auf behindertengerecht umgebaut werden können. Die riesigen Bäder etwa bringen nicht mehr Komfort, sondern lediglich Mehrkosten in der Einrichtung sowie im Betrieb. Wegen der nunmehr doppelt so großen Nebenräume vergrößert sich eine Wohnung von 40 m2 auf 52 m2. In Österreich sind 0,03 Prozent der Bevölkerung, also 26.000 Menschen, auf den Rollstuhl angewiesen. Es erscheint mir jedoch überzogen, alle Kleinwohnungen um bis zu 30 Prozent größer und teurer machen zu müssen.“
Im Detail: Den Berechnungen von Ulreich zufolge betrug der Platzbedarf in einer Standardwohnung für Vorraum (3,40 m2), WC (1,20 m2), Badezimmer (3,06 m2) und Küche (3,60 m2) in Wien bis dato 11,26 m2. Barrierefrei ausgeführt misst ein Vorraum 6,22 m2, ein WC 3,00 m2, ein Badezimmer 5,47 m2 und eine Küche 6,76 m2. Diese Räume nehmen künftig also 21,452 einer Wohnung ein.
„Es gibt Arbeitsgruppen, die sich mit dem Thema befassen. Die gesamte Baubranche schwitzt“, blickt Walter Stelzhammer, Präsident der Kammer für Architekten und Ingenieurkonsulenten für Wien, Niederösterreich und Burgenland, hinter die Kulissen. Wegen der schrumpfenden Wohnungsgrößen war die Grundrissgestaltung schon vor der Änderung der Wiener Bautechnikverordnung schwierig genug. „Am Ende zählt die Qualität einer Wohnung und nicht die Frage, ob alle Vorschriften eingehalten wurden.
Schließlich ist jedes Regelwerk nur so gut, wie es in der Praxis angenommen wird. Dieser Rückfluss aus der Praxis findet gerade statt. Eine mögliche Änderung kann aber Jahre dauern“, so Stelzhammer. Auf Nachfrage offenbarte die zuständige Magistratsbehörde der Stadt Wien kürzlich, dass es sich bei dem in der Norm geforderten, behindertengerechten Umbau binnen 24 Stunden lediglich um eine Anmerkung handle. Normativ sei dieser Punkt nicht.
Man darf also gespannt sein, wie sich der barrierefreie Wohnbau in Wien künftig in der Praxis gestaltet.