Flexibilität, Sicherheit, Wirklichkeitsnähe
Was bringt die neue ONR für die Standfestigkeit von bestehenden Gebäuden? Eine Analyse von Mag. Hans Jörg Ulreich.

Nichts ist wesentlicher als die Tragfähigkeit eines Gebäudes, muss es doch den täglichen Einwirkungen wie Wind, Schnee, Nutzlasten und Eigengewichten ebenso standhalten wie möglichen drohenden Auswirkungen eines Erdbebens. Die Bedingungen und Voraussetzungen für die Tragfähigkeit eines Neubaus sind daher strengstens geregelt, normiert und sogar europaweit erst vor kurzem im Zusammenhang mit den jüngsten Erdbebenkatastrophen erweitert worden. Doch die Situation für die Beurteilung bestehender Gebäude war – bis dato – wenig zufriedenstellend. Und das, obwohl sich in Österreich rund 1,4 Millionen aller bestehenden Wohnungen in Gebäuden befinden, die entweder vor 1919 oder zwischen 1919 und 1960 erbaut wurden.
Alte Materialien nicht genügend erforscht
Wirklichkeitsnahe Regelungen für die Beurteilung ihrer Tragfähigkeit zu erstellen und dies zu normieren erwies sich als schwierig. Die Bauweise und die Materialien dieser Gebäude sind bis heute nicht den modernen Berechnungsmethoden entsprechend erforscht. Doch nicht nur aus kultureller, sondern auch aus wirtschaftlicher Sicht lohnt es, genau diesen Wohnungsbestand zu sanieren, zu erhalten und auszubauen: Sein Wiederbeschaffungswert übersteigt den jährlichen Bauproduktionswert für den Wohnungs- und Siedlungsbau und sonstigen Hochbauten in Österreich um das 40-Fache!
Mangels der Möglichkeit einer konkreten Beurteilung der Tragfähigkeit wurde der Einfachheit halber die Normierung zur Tragfähigkeit dieser spezifischen Gebäude im Detail den Bundesländern überlassen. Diese Lösung war aber mehr als unzureichend: Wien beispielsweise verwies auf Bestimmungen im Neubau, was sich bei Sanierungen als unwirtschaftlich und unlogisch erwies, da die Technik für Neubauten nicht der Technik aus Gebäuden vor 1919 und von 1919 bis 1960 entsprechen konnte. Das Ergebnis schlug sich in einem dramatischen Rückgang von Dachausbauten und Sanierungen nieder.
Wirklichkeitsnahe Einschätzung
Mit der neuen ONR wurde nun ein erster Schritt in eine maßgebliche Richtung erzielt: für Bestandsgebäudemit Baujahr vor 1919 und zwischen 1919–1960 wurde eine wirklichkeitsnahe Einschätzung der Tragfähigkeit und Gebrauchstauglichkeit als Maßgabe zu individuell notwendigen Erhaltungsmaßnahmen eingeführt. Eine Beeinträchtigung soll damit erstmals normgemäß beurteilt werden können und die Möglichkeit geschaffen werden, dass sie mit gelindesten Mitteln behoben wird. Unnötige, kostenintensive Maßnahmen, die dem realen Standard des Gebäudes nicht entsprechen, werden somit zukünftig vermieden und sind nicht mehr – wie bisher ungeachtet des Gebäudestandards – zwingend vorgeschrieben. Ziel ist die Gewährleistung maximaler Sicherheit bei ressourcenschonendem und gebäudespezifischem Einsatz.
Bisher – das konnte dank der Initiative einzelner Unternehmen durch Versuche unter Beweis gestellt werden – war nicht gewährleistet, dass kostenintensive Nachrüstungen nach dem neuesten Stand der Technik wie bei Neubauten tatsächlich auch das Maximum an Sicherheit in bestehenden Gebäuden mit sich bringen.
Weitere erfreuliche Punkte der neuen ONR:
– Ausnahmen sind möglich, wenn der Entwicklungsstand der Technik dies rechtfertigt oder wenn sie durch Versuche oder theoretische Konzepte entsprechend begründet werden.
– Mindeststandards wurden erstmals eingeführt. Diese müssen jedenfalls eingehalten werden, um die Sicherheit ausreichend zu gewährleisten.
Ersteres ist wichtig, da es durch laufende Forschungsarbeiten zu neuen Ergebnissen kommen kann, die dann mitberücksichtigt werden können. Beispielsweise forscht eine private Initiative aus vier Unternehmen unter dem Namen „Wiener Baukultur“ an einem Messsystem für die Standfestigkeit bestehender Gebäude. Mit der Einführung einer „unteren Sollgrenze“ wiederum können besonders gefährdete Gebäude erstmals identifiziert und auf einen Mindestsicherheitsstandard nachgerüstet werden.
Die neue ONR ist eine durchaus praktische, realistische und vor allem sichere Möglichkeit für die Beurteilung der Tragfähigkeit von Gebäuden, die ein Jahrhundert überdauert haben und heute mit moderner Technik erhalten, saniert und ausgebaut werden. Und sie bietet auch Platz für neue Erkenntnisse aus den laufenden Versuchen, die bis dato unerforschten Eigenschaften von historischen Bautechniken zu ergründen. Dank der neuen ONR können Dachausbauten und Sanierungen ab sofort wieder rechtssicher und vor allem ressourcenschonend angegangen werden.